Elisabeth Endres

Aus dem Bildwörterbuch für Russen

Bücher haben ihr Schicksal, schrieb im zweiten nachchristlichen Jahrhundert Terentianus Maurus. Dasjenige, das Elisabeth Endres zu ihrer Serie „Aus dem Bildwörterbuch für Russen“ inspirierte, dürfte ein ganz besonderes gehabt haben.

1943 von der Deutschen Verlagsgesellschaft in Berlin herausgegeben, sollte es den russischen Zwangsarbeiterinnen und -arbeitern die deutsche Sprache näher bringen. Kleine Zeichnungen decken Wörter aus den Bereichen Landwirtschaft, Industrie und Hauswirtschaft ab, nennen das deutsche und russische Wort. Zwei Jahre später hätte es so manchem deutschen Kriegsgefangenen das Leben erleichtern können.

Das Wörterbuch, das die bei Freiburg lebende Künstlerin in einem Antiquariat aufgestöbert hat, zeigt Gebrauchsspuren, die Vokabelliste im hinteren Teil ist mit kleinen Häkchen versehen, manche Zeichnungen sind mit Grafitstift ausgefüllt. Mit Antiquaria kennt sich Elisabeth Endres überhaupt aus. Der frühere Werkkomplex „Block“ greift einen Auktionskatalog aus den 1920er Jahren auf, in dem russische Kulturgüter abgebildet sind, die infolge der Verstaatlichung von Adels- und Kirchengüter im Ausland devisenbringend versteigert werden sollten. Die Zeichnerin hatte sich damals von den Pretiosen zu grotesken Formen leiten lassen. „Aus dem Bildwörterbuch für Russen“ konzentriert sich stärker auf den narrativen Zusammenhang. Die Menschen, Männer, Frauen und Kinder, werden mit diesen Objekten in Beziehung gesetzt. Das mit Wachs behandelte fleckig-gelbe Löschpapier schafft für die Reproduktionen aus dem Wörterbuch und für Endres’ Zeichnungen einen gemeinsamen Bildraum. Mal fügen sich Zeichnung und Grafik aneinander, etwa bei dem Blatt, auf dem ein junges Mädchen zu sehen ist, das einen Teller Suppe anbietet, mal führen die Assoziationen weiter.

So ruft das Stichwort Geige einen Instrumentenkasten herbei, in dem ein totes Kind wie im Sarg liegt. Zwei weitere, mit einem Kreuz versehene Geigenkästen liegen verschlossen daneben. Der Betrachter muss weder vom Schicksal der einstigen Benutzer noch des Buches wissen, denn er ahnt manches.

Mit wenigen Linien macht Elisabeth Endres die Kälte sichtbar, die der Junge an den bloßen Händen spürt und die Not, die ein Kind veranlassen könnte, sein Kaninchen durch eine Fleischmaschine zu drehen. Moralisch gut sind diese Figuren nicht. Fremd wirken sie, ihre Augen sind leicht mandelförmig, meist sind sie kahl, als wären sie neugeboren. Es sind existentiell wirkende Situationen, die in der Gegenüberstellung von Ding und Mensch, entstehen.

Das „Dritte Reich“ und der Zweite Weltkrieg werden nicht explizit benannt und doch drückt sich in diesen Blättern eine Atmosphäre von Bedrohung und Unfreiheit aus. In „Die Sprache des Unmenschen“ dechiffriert der Publizist Dolf Sternberger den NS-Sprachgebrauch, Elisabeth Endres hat dem „Bildwörterbuch für Russen“ Humanität zurückgegeben.

Annette Hoffmann