Märzhasen und andere Möglichkeiten

Widerstand spüren, Herausforderungen eingehen und andere Möglichkeiten freilassen. Hiermit sind drei wesentliche Merkmale des künstlerischen Arbeitsprozesses von Elisabeth Endres angesprochen, die ganz unweigerlich und eng mit der Person der Künstlerin verwoben sind.
Die anderen Möglichkeiten sind es, die Elisabeth Endres interessieren. Diese Freiheit fordert sie für sich selbst und lässt sie auch uns als Betrachter.
Ihre ausdrucksstarken und kraftvollen Bilder bieten einen großen Deutungsspielraum. Was wir darin sehen, ist von unseren individuellen Erinnerungen und persönlichen Prägungen beeinflußt. Das Thema Kindheit jedoch, sowie Kinderbucherinnerungen an Fabel- und Märchengestalten (daher auch die Titel gebenden „Märzhasen“ aus Carrols Roman „Alice im Wunderland“), haben eine große Präsenz.

Vogelwesen und Raben erscheinen als wiederkehrende Motive in den Bildern. Eine zusammengesackte menschliche Gestalt kauert auf einem klapprigen Kutschenwagen, dahinter ein Kind, beinahe fallend, offensichtlich haltlos. Das dominierende Schwarz des Pinsels; und ein Rabe. Der, obwohl er wie leblos auf dem Rücken liegt, doch über dieser bedrückenden Szene zu schweben scheint.
Ist es ein verwandelter Zauberlehrling aus Ottfried Preußlers Krabat, dem so beliebten Kinderbuch, das auf der gleichnamigen sorbischen Sage basiert? Raben, so sagt Elisabeth Endres, hätten in ihrer Kindheit eine besondere Faszination auf sie ausgeübt.

Überhaupt scheinen Tiere im Bildkosmos der Elisabeth Endres eine schützende Kraft über die so fragil dargestellten menschlichen Gestalten zu besitzen und die jeweilige Bildszenerie zu dominieren. Ausdruck findet die Überlegenheit der Tierwesen auch in der Umkehr der Größenverhältnisse: Großes wird dabei klein, Kleines groß.
Der menschliche Körper hingegen erscheint bei Elisabeth Endres häufig fragmentiert. Einzelne Arme, Beine, immer wieder Kinderköpfe. Verlorene Gliedmassen in einer Sphäre ohne Halt und Untergrund. Manchmal ist eine rote Linie auszumachen, die die Fragmente des Lebens zu verbinden scheint.

Endres erschafft eindringlich verstörende Szenerien. Groteske Figurinen, Traumgestalten in zumeist düsterer Farbsprache. Absurdes und Phantastisches sind Merkmale ihrer Kunst. Ihre surrealen Bildrätsel nehmen in ganz besonderer Weise den Dialog mit uns auf und führen uns, wenn wir uns einzulassen bereit sind, wieder näher an jene (Kinder-)Zeit der so freien Phantasie- und Traumwelten heran. Wir alle sollten uns mehr von jenem unverstellt und nicht wertenden Blick der Kinder zurückholen. Sind wir doch im Drang, alles ein- und zuordnen zu wollen, häufig verblendet.

Es braucht so wenig, wenn die Linien eine solche Kraft besitzen wie bei Elisabeth Endres. Ihre Figuren bestehen meist nur aus Konturen, setzen sich gegen dunkle, sehr stofflich wirkende Farbflächen ab. Elisabeth Endres ist in ihrer Reduktion eine ungemein ausdrucksstarke Zeichnerin.

(Eröffnungsrede: Galerie Vincke 2018, Heidelberg)
Carolin Ellwanger